spiritualitaet innere flucht

Wenn Spiritualität und Sehnsucht nach dem Höheren zur stillen Flucht wird

Viele spirituelle Menschen suchen das Höhere. Erleuchtung. Verbindung. Licht. Bewusstsein. Vielleicht spürst auch du diese tiefe Sehnsucht nach etwas Grösserem – nach dieser stillen Erinnerung an eine Heimat, die sich kaum in Worte fassen lässt. Eine Sehnsucht nach dem Kosmos, nach dem Universum, nach dem Göttlichen.

Die Sehnsucht nach dem Höheren

Es ist eine Sehnsucht nach einem Gefühl von Zuhause, von Einssein und Frieden. Ich kenne diese Sehnsucht gut. Auch ich habe sie lange in mir getragen und zugleich nie ganz Ja gesagt zum Leben, zu diesem Körper, zu all den Herausforderungen, den schweren Gefühlen, dem Chaos und der Tiefe, die das Menschsein mit sich bringt. Lange wollte ich lieber nach oben, mich verbinden mit der Seele, mit der Quelle, mit dem Licht. Ich wollte zurück – dorthin, wo ich mich zuhause fühlte.

Doch irgendwann habe ich erkannt: Dorthin, wohin ich mich sehne, komme ich her. Das ist mein Seelenzuhause. Aber wir sind hier, um zu erfahren, was es heisst, Mensch zu sein – um zu fühlen, zu lieben, zu atmen und zu leben. All das geschieht nur durch den Körper. Und genau das war der Weg, der mich wirklich zurückgeführt hat: nicht hinaus, sondern hinein. Nicht nach oben, sondern nach unten – in den Körper, in die Erfahrung, in das Jetzt.

Wenn Spiritualität zur Flucht wird

Viele von uns suchen Erleuchtung, ohne je wirklich mit ihrem Körper in Berührung gewesen zu sein. Wir sehnen uns nach dem Höheren, nach Frieden, nach Liebe – und übersehen dabei das Wunder, das uns am nächsten ist: unseren Körper:

  • Er atmet.
  • Er fühlt.
  • Er trägt uns.
  • Und er spricht die Wahrheit, die wir oft nicht hören wollen.

In der heutigen spirituellen Szene – oder besser gesagt, in der pseudo-spirituellen Szene – wird der Körper oft übergangen: «Du bist nicht dein Körper», heisst es. «Du musst nur loslassen», oder «Steig über deine Begrenzungen hinaus».

Doch was, wenn genau in diesen Begrenzungen, in dieser Körperlichkeit, das Leben selbst zu finden ist? Was, wenn das wahre Erwachen nicht im Überschreiten, sondern im Eintauchen liegt?

sehnsucht nach hoeherem

Die stille Flucht vor dem Menschsein

Spiritualität kann – so paradox es klingt – eine leise Form der Vermeidung sein. Eine Flucht vor dem, was es wirklich bedeutet, Mensch zu sein:

  • Vor der Verletzlichkeit.
  • Vor der Scham.
  • Vor der Wut.
  • Vor der Sehnsucht, die weh tut.

Doch ohne diesen Kontakt – ohne das Erforschen dessen, was es heisst, zu fühlen, zu zittern, zu weinen, zu beben – bleibt Spiritualität unvollständig. Wir schweben in lichten Sphären, ohne wirklich zu landen. Wirklich spirituell zu sein bedeutet, das Menschsein ganz zu leben. Mit allen Sinnen. Mit allen Gefühlen. Mit der Bereitschaft, zu fühlen, was ist – auch wenn es unperfekt, roh oder schmerzhaft ist.

Verkörperung – der Weg zurück zu uns selbst

Der Körper ist kein Hindernis auf dem Weg zur Seele. Er ist das Tor dorthin. Er ist das Gefäss, durch das Bewusstsein erfahrbar wird. Wenn wir lernen, im Körper anzukommen, beginnen wir, das Leben wirklich zu spüren – und mit ihm auch unsere Seele. Wir erkennen, dass das, wonach wir suchen, nicht irgendwo da oben ist, sondern hier, mitten im Menschsein. Das ist für mich wahre Spiritualität.

  • Nicht das Entfliehen aus dem Körper, sondern das vollständige Einziehen in ihn.
  • Nicht das Übersteigen des Menschseins, sondern das liebevolle Annehmen davon.

Übung zur Verkörperung – Spür die Erde unter dir

Such dir einen ruhigen, angenehmen Ort. Vielleicht draussen auf einer Wiese, vielleicht drinnen auf einer weichen Matte. Leg dich hin, schliess die Augen und nimm wahr, wie dein Körper die Erde berührt. Spür den Kontakt – nicht so, als würdest du auf der Erde liegen, sondern so, als würde sie dich sanft tragen. Lass dich von unten her halten. Nimm wahr, wie die Schwerkraft dich sanft nach unten zieht. Wie du dich nicht festhalten musst. Wie du loslassen darfst – hinein in dieses Getragenwerden.

Im Sommer ist es besonders schön, direkt auf der Erde zu liegen, die Wärme und Lebendigkeit unter dir zu spüren. Doch auch zuhause, auf einem Teppich oder im Bett, kannst du diese Verbindung erleben. Atme ruhig. Und erlaube dir, ganz langsam, in die Erde hinein zu sinken. Dorthin, wo du gehalten bist. Dorthin, wo dein Körper ankommt – und mit ihm deine Seele.

Fazit – die Rückkehr ins Menschsein

Wir sind hier, um Mensch zu sein. Um zu atmen, zu fühlen, zu leben. Nicht, um dem Leben zu entkommen, sondern um es zu verkörpern. Denn wir können die Seele nicht fühlen, ohne den Körper zu spüren. Wir können das Göttliche nicht erfahren, wenn wir das Menschliche ablehnen. Wenn Spiritualität wieder im Körper ankommt, dann wird sie lebendig – und das Leben selbst wird zur Meditation.

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